Forever in Our Hearts – Für immer in unseren Herzen!

Fünf Jahre sind seit dem schicksalhaften Inferno im Grenfell Tower in Londons Stadtteil Kensington inzwischen vergangen. Mit einem Theaterstück, einer weiter laufenden öffentlichen Untersuchung, einem Schweigemarsch und Plänen zu einem Denkmal wird die Erinnerung an den Brand, der 72 Menschenleben kostete, wachgehalten.


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Fünf Jahre sind seit dem schicksalhaften Inferno im Grenfell Tower in Londons Stadtteil Kensington inzwischen vergangen. Mit einem Theaterstück, einer weiter laufenden öffentlichen Untersuchung, einem Schweigemarsch und Plänen zu einem Denkmal wird die Erinnerung an den Brand, der 72 Menschenleben kostete, wachgehalten

In den Jahren vor dem Brand im Grenfell Tower stieß Edward „Ed“ Daffarn, der ehemalige Bewohner des Towers, der mit anderen die Grenfell Action Group gründete und eine Blog mit Francis O‘Conner schrieb, um damit auf Probleme im Tower, wie Stromausfälle, dem nicht funktionierenden Rauchabzugssystem oder Defizite bei der Installierung der neuen Fenster des Towers zu dokumentieren, immer wieder auf Widerstand auf Seiten der der Verantwortlichen. Mit Hilfe eines neuen Theaterstücks lassen sich nun die Gespräche und Entscheidungen zwischen dem offiziellen Mieterverein, kurz als TMO bezeichnet, und der Stadtbehörde Kensington und Chelsea (RBKC) sowie verschiednen Bauunternehmen über diese Mängel und geplante Renovierungsarbeiten mitverfolgen. Hautnah erlebt man, wie die Einwände und Klagen von Bewohner:innen des Grenfell Towers, so wie Daffarn beständig abweisen. Einzig eine Stadträtin der Labourpartei spricht ein paar mal für die Community, bis sie von der von einer konservativen Mehrheit dominierten Stadtbehörde ausgeschlossen wird.

Die Uraufführung dieses Theaterstücks läuft seit dem 31 Mai und bis einschließlich dem 12. Juni 2022 quer gegenüber dem ausgebrannten Grenfell Tower. Das Stück namens „Dictating to the Estate“ entstammt der Feder Nathaniel McBrides, der seit vielen Jahren in Kensington, allerdings nicht nahe dem Tower wohnt. Produziert wurde es von Lisa Goldman, sowie von Natasha Longbridge, deren Theatergruppe in Nordkensington ansässig ist, jenem Bezirk in dem der Grenfell Tower abbrannte.

Die Uraufführung dieses Theaterstücks lief seit dem 31 Mai und bis einschließlich dem 12. Juni 2022 quer gegenüber dem ausgebrannten Grenfell Tower. Das Stück namens Dictating to the Estate“ entstammt der Feder Nathaniel McBrides, der seit vielen Jahren in Kensington, allerdings nicht nahe dem Tower wohnt. Produziert wurde es von Lisa Goldman, sowie von Natasha Longbridge, deren Theatergruppe in North Kensington ansässig ist, jenem Bezirk in dem der Grenfell Tower abbrannte.

Wenn am 14. Juni 2022 um 18.00 Uhr Menschen in London den Aufruf der Angehörigen vom im Tower Verstorbenen und von Überlebenden des Feuers zum inzwischen traditionellen Schweigemarsch durch Nordkensington zum Gedenken an das Inferno folgen, sind genau fünf Jahre seit der Katastrophe vergangen. 72 Menschen konnten damals vor dem sie umringenden Rauch und dem sich immer mehr ausbreitenden Feuer nicht mehr gerettet werden. Ausschlaggebend dafür war die neue Außenverdeckung mit brennbaren Aluminiumkasetten, die den Tower und seine 120 Wohneinheiten in eine 67 Meter hohe brennende Fackel verwandelte.

Schon am Anfang des Stücks wird dem Publikum erklärt, dass sich alles im Theaterstück auf tatsächliche Aussagen und Dokumente Wort für Wort bezieht. Gerade der sparsame Umgang mit der Wahrheit entgegen den Bewohner:innen des Towers lässt sich heute als Mitgrund für die Katastrophe erkennen. Dabei ist McBrides Versuch „die Wahrheit“ durch Theater auf die Bühne zu tragen, nicht der einzige. Schon im letzten Jahr versuchte dasgleiche ein anderes Theaterstück über den Grenfell Tower.Grenfell, Value Engineering (Richard Norton Taylor und Richard Kent) ließ auch Worte originalgetreu nachsprechen. Allerdings handelte dieses Stücks von der immer noch laufenden öffentliche Untersuchung, während McBrides Aufführung versucht die Jahre, Monate und Wochen vor dem Feuer durch seine Dramatisierung zu veranschaulichen. Bereits 2019 hatte McBride Teile des Stücks öffentlich probelesen lassen, konnte aber danach das fertige Stück in seiner letztendlichen Form aufgrund der Pandemie aufführen.

Dictating the Estate, Foto: Kevin Percival

Die Untersuchung zu den Ursachen und Umständen des Feuers läuft ebenfalls fast seit fünf Jahren, sie wurde kurz nach dem Feuer ausgerufen und begann am 17. September 2017. Die Aussagen und Berichte hierzu gehen inzwischen über viele tausende von Seiten und beinhalten Aussagen von 644 Hauptzeug:innen. Nathaniel McBride ist einer jener, die sich mit diesem Material inzwischen intensiv beschäftigt haben, um daraus das Theaterstück zu schöpfen, welches die Zeit vor dem Brand wieder zum Leben erweckt. „Ich musste mich erst an alles gewöhnen“, gesteht er, denn mit der Sprache über Feuerregulierungen und die technische Sprache im Hausbau, sei er bisher nicht vertraut gewesen.

Der 51 Jahre alte Dramatiker, der übrigens auch als Deutsch Übersetzer arbeitet, spricht von einem besonders hohen Grad der Verantwortung, nicht nur bezüglich der gesprochenen Worte, sondern auch um alles so weit er kann faktisch richtig zu stellen. „Diese Verantwortung fühle ich insbesondere gegenüber jenen, die Angehörige oder Bekannte im Feuer verloren haben, oder die das Inferno überlebt haben“, sagt er. Die erste Vorstellung des Stücks galt deshalb einzig dieser Gruppe von Menschen und so weit McBride es weiß, sagt er, hat das Stück diesen Test überlebt.

Das was McBride auf der Bühne darstellen möchte sei „der Nährboden in dem sich Bauunternehmen, Stadtbehörde und Vertretungen, die TMO und die Politik gegenseitig halfen und deckten.“ Es ist der direkte Weg in die Katastrophe“, sagt er. „Wer das versteht, kann über das, was geschehen ist, nicht mehr überrascht sein“, glaubt McBride weiter. In einer Szene lässt er sogar den ehemaligen Premierminister David Cameron zu Wort kommen, in der dieser eine Ankündigung macht, dass er im Interesse von Wirtschaft und Unternehmen das Mass notwendiger Sicherheitsvorkehrungen „killen“ werde. Dabei gesteht McBride, dass er selber das sehr lebendige Stück eher sachlich und nüchtern verfasst hätte. „Die Lebendigkeit des Stücks die sie erleben, geht vorallen auf die Interpretation und Arbeit der Schauspieler:innen zurück“, sagt. Noch etwas unsicher darüber erecheined, glaubt er, dass es so weit er von den Reaktionen der Zuschauer:innen absehen kann, gut ist.

McBride, der offen über seinen Aktivismus als Sozialdemokrat in der Labourpartei plaudert, erzählt schließlich, dass er bereits vor dem Inferno ein Theaterstück über die, wie er es nennt, „jahrzehntelange Geschichte der Marginalisierung von ärmeren Gemeinschaften in Kensington und den Prozessen der staatlich sanktionierten Gentrizierung, schreiben wollte.“ Es sei jener Prozess, der überall in London implementiert werde, selbst in von Labour verwalteten Stadtbezirken. Das beschreibt er so: „Alteingesessene Bevölkerungen, die in Sozialwohnungen lebten, werden mittels Neubauten einfach aus der Gegend geworfen.“

Sein Fazit nach jahrelangem Herumwühlen in den Akten ist für ihn eindeutig. „Grenfell ist die Geschichte der Interessen der Bauunternehmen, ihrer finanziellen Träger und einer Regierung, welche die Last der staatlichen Verschuldung auf die Ärmsten und Schwächsten schob, und glaubte, damit davonkommen zu können.“

Um Kosten zu sparen, wurden für die Renovierung der Außenfassade des Towers Aluminiumkassetten, statt der vorgesehenen aus Zink genehmigt. Versprechen auf Mitspracherecht der Bewohner wurden dabei gebrochen. Wichtig war der Stadtbehörde vor allen, dass der Tower besser aussieht. Fünf Darsteller:innen in über 40 Rollen lassen jeden Schritt hautnah miterleben. Man ist gezwungen zuzusehen, wie eine Entscheidung nach der anderen auf Katastrophe hinzuläuft.

„Ich will, dass beim Verfolgen des Stücks Wut aufkommt“, sagt McBride, und außerdem Gefühle der Anwiederung gegenüber den Ideologien, Entscheidungen und den dafür verantwortlichen Personen. Es sei ein Stück, dass in diesem Sinne absichtlich und klar politisch ist.“.

Die dramatisierten Konfrontationen der Einzelnen, so wie Ed Daffarn und Francis O’Connor und anderen engagierten Bewohner:innen gegen die Verantwortungsträger:innen erinnert dabei nicht zufällig an Kafka. „Kafka war der Grund weswegen ich in der Schule Deutsch lernte,“ gesteht McBride, und fügt an, dass sich im Stück obendrauf Aspekte von Peter Weiss wiederfinden, mit denen dieser den Vietnamkrieg aufarbeitete.

Kurz vor Ende des Stücks lässt McBride Ed Daffarn, der im ganzen Stück immer wieder vorkommt, zu Wort kommen. Sieben Monate vor dem Feuer schrieb die Grenfell Action Group auf ihrem Block nahezu prophetische Worte: „Nur ein katastrophales Ereignis wird die Unfähigkeit und Inkompetenz unseres Grundstückseigentümers bloßlegen.“ In der letzten Szene wird dieses Prophezeiung durch die Aussage von der Grenfell Tower Überlebenden Hanan Wahabi den Zuschauer:innen vor Augen geführt. Sie, gespielt von Schauspielerin Tamara Camacho, schildert, wie sie zwar selber dem brennenden Tower entkommen konnte, jedoch ihr Bruder den Anweisungen der Feuerwehr folgte und im Tower verharrte und so mit seiner gesamten Familie im Tower umkam — insgesamt fünf Personen.

Bis heute wurde niemand im Zusammenhang mit dem Feuer angeklagt, obwohl die polizeilichen Ermittlungen hierzu parallel zur öffentlichen Untersuchung laufen. Die erste Phase der Untersuchung etablierte 2019 ganze 46 Empfehlungen. 21 davon wurden inzwischen laut Regierungsangaben in englisches Recht umgewandelt. Die Londoner Feuerwehr, unter der Obhut des Londoner Bürgermeisters Sadiq Khan, hat sogar alle Empfehlungen, die sich auf sie bezogen angenommen und versucht diese zu implementieren, dennoch gibt es Streitpunkte. Das britische Innenministerium hat sich beispielsweise von einer Empfehlung distanzierte, die laut der Untersuchung viele Menschenleben hätte retten können, nämlich, dass Menschen in brennenden Hochhäusern nicht mehr darum gebeten werden sollten, sich in den Häusern zu verschanzen, bis sie gerettet werden. Diese Empfehlung sei weder angemessen, praktisch noch sicher behauptete das Ministerium.

Von landesweit 486 Hochhäusern über 18 Meter Höhe mit Grenfell-ähnlicher-Verkleidung, wurden laut dem letzten Regierungs-Update inzwischen 318 feuersicher gemacht.

Inzwischen liegt auch ein erster Bericht der Grenfell Tower Erinnerungskommission vor, der versucht mit Rücksprache mit Angehörigen von Opfern und Überlebenden und der Kommune, die um den Grenfell Tower herum lebt, über das zu sprechen, was dort, wo der abgebrannte Tower derzeit noch steht, einmal zum Gedenken an das Inferno entstehen soll. Bisher sind es nur Grundgedanken, über welche die Kommission spricht, nämlich dass es ein die Opfer würdigendes Objekt werden soll, welches „Ruhe, Liebe und Besinnung ausstrahlt und gleichzeitig Besucher:innen Hoffnung gibt.“ Die derzeitigen Ideen reichen von einem Garten oder etwa einem Wasserspiel, wie in New York beim Denkmal für die Opfer von 9/11, bis hin zu einem Denkmal in den Dimensionen des abgebrannten Towers. Auch ein Kinderspielplatz oder Museum sind nicht ausgeschlossen.

Beim Hinausgehen aus dem Theater erscheinen an einer Säule der Arkaden und im Hintergrund des wahrhaften Towers, die Worte, die Symbol des Gedenkens geworden sind. Es sind auch die letzten Worte im Theaterstück selber und sie stehen ebenfalls auf der Verkleidung des Towers.

„Forever in our Hearts.- für immer in unseren Herzen“

Ein Interview von Daniel Zylbersztajn-Lewandowski mit Ed Daffarn erscheint am 13. Juni 2022 in der taz, in dem sich Daffarn auch über dieses Theaterstück äußert.

Fotos: Fotos vom Theaterstück “Dictating The Estate” Kevin Percival, mit freundlicher Genehmigung © 2022. Andere Fotos Daniel Zylbersztajn-Lewandowski © 2022

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